Anleihemärkte in Aufruhr

Nur relativ wenige Investorinnen und Investoren haben jemals bewusst solche Kursbewegungen auf den vermeintlich „sicheren“ Anleihemärkten erlebt.

  • Rund 10 Jahre Renditerückgang werden in nur wenigen Monaten „ausgelöscht“.

  • Mehrere Faktoren heizen Inflation an und bringen Notenbanken in Zugzwang.

  • Erstmals seit über 10 Jahren bieten Anleihen wieder nennenswerte Renditen und Ertragspotenzial.

  • Kursschwankungen: (zurück)gekommen um zu bleiben?

  • Ausblick: Dauerhafter Umschwung und ein wieder ertragreicheres Anleiheumfeld?

Dieser Beitrag kann die Kursrückgänge selbstverständlich nicht ungeschehen machen. Aber er kann Erklärungen dafür liefern und aufzeigen, was auf diese außergewöhnlichen Kursbewegungen folgen könnte.

Historische Zinsentwicklung im Rückspiegel

Rund zehn Jahre brauchten die Renditen 10-jähriger österreichischer Bundesanleihen, um von rund 2,2 % p. a. auf ca. minus 0,6 % Rendite p. a. im absoluten Tief zu fallen. Als die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Null- und Negativzinspolitik startete, erwarteten nur die wenigsten, dass diese ein ganzes Jahrzehnt anhalten würde. Zeitweise notierten weltweit Anleihen im Gegenwert von über 15 Billionen Euro mit nominal negativen Renditen – und sie wurden trotzdem gekauft!

Der große Renditesprung 2021/2022

Die Renditen benötigten nur rund ein halbes Jahr, um diesen langen Renditerückgang komplett auszulöschen. Aus dieser lang anhaltenden Phase ultraniedriger Zinsen und sehr moderater Inflation wurden wir alle jetzt sehr unsanft und abrupt herausgeworfen. Möglicherweise stand die Ära zurückgehender Teuerungsraten ohnehin vor ihrem Ende, vielleicht hätte sie auch noch einige Jahre weiterlaufen können. Aber recht schlagartig trat ein ganzes Bündel inflationär wirkender Entwicklungen auf den Plan: das teilweise Zurückdrehen der Globalisierung (inkl. Outsourcing) als Folge erhöhter geopolitischer Spannungen (z. B. China – USA), enorme Verwerfungen durch die Covid-Pandemie und die verhängten Lockdowns, jahrelanges Unterinvestment in die Förderung von Öl, Gas und Industriemetallen und der Krieg in der Ukraine sowie die beispiellosen Sanktionen der westlichen Staaten gegen Russland. Auf all diese Entwicklungen reagierten die Notenbanken sehr spät. Sie versuchen nun, die Kontrolle wieder zurückzubekommen. Dabei ist anzumerken, dass ein Teil des aktuellen Inflationsdrucks durch die Geldpolitik weder hervorgerufen wurde, noch durch sie beseitigt werden kann.

Kehrtwende an den Anleihemärkten

Für die Anleihemärkte bedeutete das eine unerwartet rasante, nahezu übergangslose Kehrtwende von einer langen Periode ultra-lockerer Notenbankpolitik und niedriger Inflation hin zu einem neuen (alten) Regime höherer Inflation und nicht mehr per se unterstützender Geldpolitik. Entsprechend drastisch und für letztlich alle überraschend schnell waren die Marktbewegungen der letzten Monate.

Warum sind die Kurse „sicherer“ Anleihen so kräftig gefallen?

Anleihekurse steigen, wenn die Renditen fallen. Im Gegenzug sinken die Kurse bei steigenden Renditen. Warum das so ist, lässt sich einfach erklären.

Beispiel: Sagen wir, eine Anleihe mit 10 Jahren Restlaufzeit notiert zu 100 am Markt mit einem Zinskupon von 1 % und bringt damit 1 % Rendite. Steigt das Renditeniveau auf den Märkten für vergleichbare Anleihen (Laufzeit, Bonität) auf 2 %, muss diese Anleihe das natürlich auch bieten, ansonsten würden Anleger sie verkaufen und stattdessen jene Anleihen kaufen, die 2 % Rendite bieten. Da der Kupon fix ist, muss die Anpassung über den Anleihekurs erfolgen. Ganz grob gerechnet, muss der Kurs dieser Anleihe dann auf ungefähr 90 sinken. Das sind immerhin rund 10 % Kursrückgang! Im Normalfall erfolgen solche Anpassungen eher gemächlich auf den Anleihenmärkten und verteilen sich über mehrere Quartale oder gar Jahre. Aktuell geschehen sie aber binnen weniger Wochen und damit gibt es sehr viel größere Kursausschläge in kurzer Zeit. Dieser Effekt der Kursanpassung bei Renditeveränderungen ist umso ausgeprägter, je länger die Restlaufzeit einer Anleihe ist, d.h. bei langlaufenden Anleihen fallen Renditeänderungen sehr viel stärker ins Gewicht, bei kurzlaufenden kaum bis gar nicht.

Freilich, und auch das ist wichtig: Ein Teil der Kursrückgänge ist lediglich vorübergehender Natur, sofern der Anleiheemittent zahlungsfähig bleibt. Denn dann werden natürlich am Laufzeitende auch jene Papiere zu 100 % zurückgezahlt, die aktuell darunter notieren.

Kurs-Rendite-Verhältnis

Eine Tür schließt sich, eine neue öffnet sich

Die positive Kehrseite des jüngsten massiven Renditeanstiegs und der Kursrückgänge ist: Erstmals seit über einem Jahrzehnt bieten Anleihen in der Eurozone wieder nennenswerte absolute Erträge. Nicht nur private Anleger, sondern auch institutionelle Investoren (wie etwa Versicherungen und Pensionskassen) atmen daher spürbar auf, auch für das Wiederveranlagen auslaufender Anleihen. Sowohl für Anleihe- als auch Mischfonds verbessert sich damit das Risiko-Ertragsprofil ganz erheblich. In manchen Anleihefonds bzw. Anleiheportfolios von Mischfonds gibt es damit inzwischen wieder ein Renditeniveau von rund 3 % und mehr (Stand Juni 2022), eine gute Basis für zukünftige Ertragschancen.

Positiver Diversifikationseffekt

Für Mischportfolios kommt als positive Auswirkung hinzu, dass Anleihen damit auch wieder sehr viel besser als Diversifizierungsinstrument funktionieren könnten als in den letzten Jahren. Denn bei Mischfonds war heuer erschwerend für die Performance, dass Aktien und Anleihen in den letzten Monaten parallel zueinander gefallen sind. Zumeist bewegen sie sich gegenläufig, was einen Großteil des Diversifikationseffekts bei gemischten Portfolios aus Anleihen und Aktien ausmacht. Dieser Diversifikationseffekt hat heuer kaum stattgefunden, was zumindest teilweise dem geringen Ausgangsniveau der Renditen geschuldet war.

Kursschwankungen auf Anleihemärkten wieder „normal“?

Nicht nur die Negativzinsphase in der Eurozone dürfte bis auf weiteres der Vergangenheit angehören, sondern auch die damit einhergegangene Periode extrem niedriger Schwankungen auf den Anleihemärkten. Die aktuellen Kursbewegungen gehören zwar zu den kräftigsten der letzten Jahrzehnte. Dennoch sind die Kursschwankungen selbst gar nicht so ungewöhnlich, sondern bewegen sich noch ungefähr im Rahmen dessen, was vor 2012 auf den Anleihenmärkten gang und gäbe war. Es waren die massiven anhaltenden Markteingriffe der Notenbanken und das Umfeld dauerhaft niedriger Inflationsraten, die im vergangenen Jahrzehnt die Kursschwankungen bei Anleihen weit unter die historischen Normalwerte drückten. Mit dem Gewöhnungseffekt lange Zeit künstlich niedriger Schwankungsbreiten erscheinen die aktuellen Bewegungen nun umso gravierender.

Zukunft der Anleihemärkte: wie könnte es weitergehen?

Auf den Punkt gebracht: Die Anleihemärkte in der Eurozone und den USA versuchen gerade ein Umfeld neu einzupreisen, indem sie wieder weitgehend auf sich gestellt sind, ohne massive und anhaltende direkte Markteingriffe der Notenbanken.

Aktuell stehen die Anleihemärkte vor allem im Spannungsfeld von Inflations- und Rezessionsrisiken und einer sehr viel geringeren geldpolitischen Unterstützung – sogar bis hin zu beginnendem Gegenwind seitens der Notenbanken. Die US-Notenbank (Federal Reserve, kurz Fed) und die EZB haben sicherlich schon ein besseres und vertrauenswürdigeres Bild abgegeben als derzeit, wo sich ein gewisser Eindruck von Hektik und eher sprunghaften Entscheidungen bietet, nebst ebensolcher Kommunikation. Gleichwohl haben die Zentralbanken die Märkte fürs erste davon überzeugt, dass es ihnen ernst ist mit der Inflationsbekämpfung und sie Zinsen anheben und Liquidität verknappen wollen, auch in einen wirtschaftlichen Abschwung hinein. Ob und wie lange die Notenbanken dies durchhalten werden, steht auf einem anderen Blatt und wird auch schon verstärkt auf den Märkten diskutiert.

Inflationsdruck versus Rezessionsrisiken

Bis auf weiteres dürfte man aber an Zinsanhebungen festhalten - und das zumindest so lange, wie sich nicht nachhaltigere Entspannung beim Inflationsdruck abzeichnet. So weit, so klar.

Die Gretchenfrage, die derzeit niemand verlässlich beantworten kann, vermutlich nicht einmal die Notenbanken selbst: Was passiert, falls sich die Konjunktur sehr viel stärker und schneller abschwächt als die Teuerungsraten? Ein solches Szenario gehört sicherlich zu den Risiken für die Anleihemärkte derzeit, speziell in der Eurozone. Es würde zusätzliche Unwägbarkeiten bedeuten und die Notenbanken in eine sehr viel schwierigere Lage bringen. Sie müssten dann eigentlich gleichzeitig gegen Rezession und Inflation ankämpfen. Das ist ein praktisch kaum machbarer Spagat, sodass sich die Notenbanken dann für eines der beiden Ziele entscheiden müssten.

Ein solches Szenario ist aber nur eine von mehreren möglichen Entwicklungen und es sind auch deutlich günstigere Varianten denkbar. Es erscheint aus heutiger Sicht zumindest zweifelhaft, dass die EZB wie derzeit geplant die Zinsen nach oben nehmen wird, falls zeitgleich die Risiken einer Rezession erkennbar werden und stark steigen. In den vergangenen Tagen haben die Märkte daher vor allem in der Eurozone damit begonnen, die Zinsanhebungen schon etwas weniger aggressiv einzupreisen. Sowohl in den USA als auch Europa widerspiegeln sie aber derzeit sehr rasche und starke Zinsanhebungen für die kommenden Monate.

Fazit: Dauerhafter Regimewechsel an den Anleihemärkten?

Die Schwankungen auf den Anleihemärkten werden vermutlich noch eine Weile anhalten, während sich ein neues Gleichgewicht für das markant veränderte Umfeld einstellt. Eine halbwegs präzise Einschätzung für Renditen und Kursniveaus auf Sicht der kommenden ein bis zwei Jahre ist derzeit extrem schwierig bis unmöglich. Dazu gibt es gegenwärtig einfach zu viele Unwägbarkeiten und gegenläufige Faktoren. Im günstigen Falle für Anleiheinvestoren wird sich in den kommenden Jahren eine Situation einstellen, in der die Inflation wieder spürbar zurückgeht und sich sogar auch wieder positive Realrenditen verdienen lassen (also nominale Renditen abzüglich Inflation) und in der sich die Notenbanken sehr viel stärker zurückhalten. Das wäre dann immerhin ein guter Abschied von über 10 Jahren Nullzins- und Negativzinspolitik. Ob das gelingt, wird sich freilich erst zeigen müssen.

Dieser Inhalt ist nur für institutionelle Anlegerinnen und Anleger vorgesehen.

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